Zittau, 09.11.2013 | Rede von SPD- Stadtrat Klaus Zimmermann, gehalten am 09.11.2013 am Ort der zerstörten Synagoge auf der Lessingstrasse in Zittau
Ich greife heute wieder ein Wort aus Vorjahren auf: Zukunft braucht Erinnerung. Nein, wir lassen davon nicht ab. Heute möchte ich aus der Vielfalt einfach einige Ereignisse herausgreifen, die uns in diesem Jahr mit einer runden Zahl begegneten. Auf den Tag genau standen hier vor 20 Jahren Leute an dieser erst 44 Jahre nach Kriegsende angebrachten Gedenktafel, standen Leute hier an dem Zittauer Bürger 1938 die Synagoge in Schutt und Asche gelegt hatten.
Der Vorschlag, den 9.November jeden Jahres künftig als „Tag der Besinnung zur Demokratie und zur Friedfertigkeit“ zu begehen, fand unter den damals hier vor 20 Jahren Anwesenden, dann beim Bürgermeister und auch im Stadtrat große Zustimmung.
Tag der Besinnung
Da fällt mir zur Friedfertigkeit, deren wir heute auch gedenken, als Deutscher nicht so sehr viel ein. Zuvorderst natürlich die Friedliche Revolution 1989, mit Friedensgebeten und Kerzen und montags und nach Feierabend und dann nach polnischem Vorbild an Runden Tischen. Dieses Mal blieben die Panzer stehen. Nicht so wie vor 60 Jahre beim Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 oder 1956 in Poznan, 1957 in Budapest, in Berlin, als niemand die Absicht hatte, eine Mauer zu bauen und dann 1968 hinein in den Prager Frühling, auch von deutschem Boden aus.
Unser eigenes Geschichtserleben sagte uns damals, dass, wenn im Nachkriegseuropa Panzer rollten, es immer sozialistische Panzer waren. Dabei hatte uns vor allem die Rote Armee unter riesiger Aufopferung vom Nationalsozialistischem Regime befreit und sie hatte uns am 8. Mai 1945 gemeinsam mit ihren damaligen Verbündeten den Frieden in`s Land gebracht. Dass in der Folge dann aber ursächlich durch das Weltmachtstreben des Hitlerregimes die Ausbreitung des Kommunismus stalinscher Prägung bis an Elbe und Donau überhaupt erst möglich wurde, ist unstrittig und führt uns den Zusammenhang von Ursache und Wirkung vor Augen.
Beim weiteren Nachdenken über Friedfertigkeit fällt mir im Besonderen heute Europa ein, unsere Friedensunion und dass wir mit unseren polnischen und tschechischen Nachbarn dazu gehören dürfen. Trotz aller ferngesteuerten und hausgemachten Probleme, die sich unserem herrlichen Europagedanken in den Weg stellten und stellen werden, hat sich mir der Satz von Jean- Cloud Junker ganz stark eingeprägt: „Wer an Europa zweifelt, sollte Soldatenfriedhöfe besuchen“. Ganze 15 Minuten von hier entfernt liegt an der Hammerschmiedstrasse mit mehreren Gräberfeldern schon der nächste.
Blick 80 Jahre zurück
Im Januar 1933 hört der erste demokratische deutsche Staat auf, zu existieren. Die NS- Propaganda schmäht die Demokratie mit dem Begriff „System“. Ich höre meine Mutter noch von „Systemzeit“ sprechen, so verinnerlicht war dieses verunglimpfende Wort für die Zeit der Weimarer Republik. Von nun an herrscht für über 12 Jahre der zivile Ausnahmezustand. Am 10. Mai 1933 brennen die Bücher auf dem Berliner Opernplatz, fast zeitgleich in 93 deutschen Städten. Vorauseilend wurde das schon mal in der Kulturstadt Dresden ausprobiert, zwei Monate zuvor, vor der Volksbuchhandlung und auf dem Wettiner Platz.
Bereits 1933 setzt der NS- Hinrichtungswahnsinn ein. Bis 1945 werden durch „ordentliche“ deutsche Richter 16.000 Todesurteile gefällt. Vorwand: Wehrkraftzersetzung. Oft nur für einen erzählten Witz oder eine unbedachte Äußerung. Hinzu kommen die 30.000 Todesurteile der Kriegsgerichte. Noch im Mai 1945 sollen vor dem Krematorium Menschen umgebracht und an der Mauer des Zittauer Frauenfriedhofes Kindersoldaten erschossen worden sein. Nach dem Ermächtigungsgesetz vervollständigt die Reichstagsbrandverordnung die Machtfülle des Diktators. Das erste Konzentrationslager wird in Dachau errichtet. Am 12.November 1933 werden Wahlen zum Reichstag abgehalten, erstmalig mit Einheitslisten. Das Einparteiensystem steht.
Die nächste runde Zeitangabe: Vor 70 Jahren
endet im Januar 1943 die Schlacht um Stalingrad. Sie wird zum großen psychologischen Wendepunkt des II. Weltkrieges. Für nichts sind 700.000 Menschen dem Wahnsinn geopfert worden. Am 22. Februar brüllt Freisler das Todesurteil für Hans und Sophie Scholl in den Volksgerichtshof. Vollstreckung am selben Tage.
Mit großer propagandistischer Aufmachung wird im April 43 vom sowjetischen Massaker an 4.400 polnischen Offizieren im Wald bei Katyn berichtet. Ein Mitarbeiter der Firma meines Vaters, Frontsoldat und auf Heimaturlaub in Zittau, antwortet auf die Bestürzung meiner Mutter: „Und wehe uns, wehe, wenn sie unsere Katyn`s entdecken“.
Und dann vor 70 Jahren wehrten sich Menschen gegen die Tyrannei. Sie standen auf, kämpften gegen ihre Deportation und Vernichtung. Juden im Getto von Warschau. In Deutschland des Jahres 2013 kaum erwähnt.
1938
Am 12. März marschieren vor 75 Jahren deutsche Wehrmachts- , SS- und Polizeieinheiten in Österreich ein, von vielen begeistert empfangen. „Heim im Reich“, wird aus Österreich die „Ostmark“, auf allen Ebenen dem NS- Staat gleichgeschaltet. Anfang Oktober 1938 folgt die militärische Besetzung der vor allem deutschsprachigen Randgebiete der Tschechoslowakei. Hauptstadt der „Reichsgau Sudetenland“ wird Reichenberg, unsere heutige Partnerstadt Liberec, Reichsstatthalter der Pg Konrad Henlein.
Dann wird an den Synagogen gezündelt, fast zeitgleich im Großdeutschen Reich, am 9. November, tags drauf auch in Zittau und in Reichenberg. Abends wird im Sturm- Lokal am Zittauer Schlachthof die Sprengung der Brandruine gefeiert. Was wusste mein Vater davon? War er womöglich dabei, in einer SA- oder Parteiuniform?
Der Bruch mit jeglichem zivilisierten Denken und Handeln nimmt seinen Fortgang und endet in der technologisch ausgefeilten, fabrikmässigen Tötung von Menschen.Sechs Millionen werden es am Ende sein, vertrieben in die von Deutschen betriebenen Vernichtungsstätten. Nichts, aber schier gar nichts kann diese von deutschen Hirnen erdachte Perversion relativieren. Erstmalig und einmalig in der Weltgeschichte. Es gab und gibt nichts Vergleichbares.
Nun sag mir einer nach all dem, wo Leute stehen, die heute in Fußballstadien „Judenschweine“ grölen, Leute, die heute wieder von System und Systemknechten sprechen und jenen, denen das Wort „entartet“ wieder leicht von den Lippen kommt. Wir haben weiter auf der Hut zu bleiben.
Zukunft braucht Aufarbeitung, nicht nur die ganz große und offizielle, auch die ganz private, die persönliche und innerfamiliäre. Die DDR verstand sich als Erbin und Nachfolgerin des antifaschistischen Widerstandskampfes, vor allem des Widerstandskampfes der KPD. Ranghohe Träger des NS- Systems, und nicht nur diese, wurden mit aller Härte bestraft. Andere wiederum erlangten auch im Osten hohe Ämter und Positionen beim Militär, in Parteien und im Staatsapparat. Die Zuweisung der Schuld an „die Nazis“ ist sachlich richtig, aber weil so allgemein, greift sie zu kurz. „Der Nazi“ ist ein sehr anonymer Begriff, da muss sich niemand persönlich angesprochen fühlen, da bleibt individuelle Aufarbeitung weitgehend aus.
„Sag mir, wo du standst?“ könnte doch eine Frage der Kinder und Enkel an ihre Eltern und Großeltern sein, nicht um zu verurteilen, eher um zur Erinnerung und zur persönlichen Auseinandersetzung anzuregen und um zu erfahren, wie ihre Altvorderen tickten, damals, eingebunden in das jeweilige Zeitgeschehen vor und nach 1945, und wie sie das heute sehen. Zukunft braucht auch Mut zur Erinnerung.
Im letzten Jahrhundert hat das „Nicht- Zusammenleben- Wollen“ 80 Millionen Menschen das Leben gekostet. Wir Jetztmenschen aber nun gehören in diesem Jahr zu den glücklichen „Achtundsechzigern“, der Generation, die nun schon 68 Jahre krieglos leben durften, im Frieden nun erst recht in unserem Europa.
Besinnen wir uns am „Tag der Besinnung zur Demokratie und zur Friedfertigkeit“ darauf und dies sehr bewusst und auch in Dankbarkeit.
Klaus Zimmermann